Dieses Jahr konnte ich in der Urlaubszeit nicht wegfahren — jedenfalls nicht an einen anderen Ort. Aber dafür kamen meine Freunde und ich auf die glorreiche Idee, Tagesausflüge zu machen. Dabei zogen uns kleine und große Kirchen magisch an. Es faszinierte uns, in den alten Gemäuern vor allem die Mosaikbilder genauer zu betrachten, die sich in den Fenstern, auf den Böden, an den Decken oder Wänden befanden. Liebevoll und in meist jahrelanger, mühsamer Arbeit wurden sie aus vielen kleinen, farbigen Steinen zusammengesetzt.
Meine Freunde und ich stellten fest, dass viele Mosaikbilder nicht mehr ganz vollständig waren. Häufig gingen im Laufe der Jahre schon einige Teilchen verloren oder büßten an Farbe ein. Dagegen wurden andere Kunstwerke dieser Art inzwischen sorgfältig restauriert. Wenn die Sonne schien, leuchteten sie sogar, sodass man fast glaubte, dass sie kürzlich erst geschaffen wurden.
Je näher wir an die Mosaikbilder herantraten, desto mehr nahmen wir das Einzelne, das Fehlerhafte oder auch den Schmutz wahr. Und das konnte zuweilen irritieren, entmutigen, verblenden. Wenn wir allerdings ein paar Meter zurückgingen, entdeckten wir wunderschöne Gesamtwerke — mit tiefen Botschaften in vielschichtigen Farbnuancen. Erst durch die Entfernung entfalteten sie ihre umfangreiche Wirkung.
Im Nachdenken darüber fiel mir auf, dass Mosaikbilder mit unserer Biografie ganz viel gemeinsam haben. Jeder einzelne Tag, jedes Ereignis, jeder Abschnitt, jede Begegnung gleicht einem Steinchen in dem großen Mosaik unseres Lebens. Und dabei färben alle Erlebnisse ab — nicht nur in das Rot der Liebe, in das Grün der Hoffnung, in das Blau des Himmels, sondern auch in das Grau des Alltags oder in das Schwarz der dunkelsten Tage. Wenn wir ganz nah an die jeweiligen Steine herantreten, stechen uns die verschiedenen Formen und Farben ins Auge. Es kann auch sein, dass wir Kratzer, Einschlüsse, Risse und Schmutzstellen aus einzelnen Bereichen zu lange unter die Lupe nehmen und darüber tief betrübt sind. Dagegen hilft es, ein paar Schritte zurückzutreten und das große Ganze in den Blick zu nehmen.
Wenn ich mich — eine Zeit lang — an einem düsteren Element meines Lebens festgeguckt habe, versuche ich, mich bewusst loszureißen und auf Abstand zu gehen. Dann schließe ich die Augen und lasse innerlich den Film meines Lebens an mir vorbeiziehen. Dabei erinnere ich mich an schöne und schwere Mosaiksteine … an Segmente, bei denen ich nach einem Verlust gewinnbringende Erfahrungen sammelte … an wohltuende Veränderungen nach Stagnationen … an Abschiede und Neuausrichtungen … an Stürme auf hoher See und an Erholungsphasen am Strand. Jedes Bruchstück gehört genau so zu meinem Dasein wie jedes Glanzstück. Ja, und dann gehe ich — in meinen Gedanken — noch einen Schritt weiter: Ich wandere dem dunklen Abschnitt, der mich momentan so sehr gefangen nimmt, schon weit voraus. Fünf oder zehn Jahre später sehe ich auf diesen Zeitpunkt zurück. Inzwischen geht es mir wieder besser. Eine bunte Farbenwelt belebt mein Herz. Ich erkenne noch nicht alles, aber ich weiß tief in meinem Herzen, dass das Leben ziemlich bunt ist.
Irgendwann werden wir am „himmlischen Kirchentor“ vor den vollkommenen Mosaikbildern unseres Lebens stehen und darüber staunen, mit wie viel Liebe und Präzision, mit wie viel Weitblick alles zusammengefügt worden ist, sodass wunderschöne Meisterwerke entstanden sind. Die Einkerbungen, Brüche oder verblassten Farben werden dann aus unserem Sichtfeld verschwunden sein, weil wir — aus der Ferne — das große Ganze bewundern können. Und gleichzeitig werden wir verwundert sein, wie gut es „der ganz große Meister“ — trotz allem — mit uns gemeint hat!